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L1090476 | Lack © Johannes Groht
Wir träumen von Reisen durch das Weltall.
Ist denn das Weltall nicht in uns?
Novalis

KOSMOGRAFIEN – Bilder des Kosmos in alltäglichen Dingen

Der Begriff Kosmografie taucht das erste Mal als Bezeichnung einer Weltbeschreibung auf, die im siebten Jahrhundert im italienischen Ravenna entstand. Im Mittelalter war die Kosmografie die Wissenschaft, die das Verhältnis des Menschen zur Erde und zum Weltraum erforschte. Aus ihr entwickelten sich die Vermessung, die Kartografie, die Geografie und die Astronomie. Manche Kosmografen wurden im frühen 16. Jahrhundert durch die katholische Inquisition als Ketzer verfolgt.

Das griechische Wort Kósmos bezeichnete damals nicht nur das Weltall, sondern die ganze Weltordnung – gemäß seiner Grundbedeutung »Ordnung, Anstand, Schmuck«. Gráphein stand für Beschreibung, es umfasst aber eigentlich
»die Kunst zu schreiben, zu zeichnen, zu malen usw.« [1] Das wird deutlich an anderen zusammengesetzten Wörtern wie Lithografie oder Fotografie.

In diesem Sinne gebe ich dem Begriff Kosmografie nun eine neue Bedeutung und verwende ihn für meine Bilder. Es handelt sich dabei um Fotografien von den Spuren kosmischer Prozesse, die manchmal selbst zu Bildern des Kosmos werden. Es sind kosmische Selbstporträts.

Anfang der 90er Jahre habe ich begonnen, mich fotografisch mit asphaltierten Flächen zu beschäftigen. Dabei entdeckte ich Sterne, Planeten und Kometen – einen ganzen leuchtenden Kosmos! Eigentlich einen Mikrokosmos der Missgeschicke aus verschütteter Farbe, verlorenen Zementkrümeln und danebengegangenem Felgenspray. Im richtigen Ausschnitt fotografiert
verloren die Dinge ihre alltägliche Bedeutung, ihren Maßstab und ihre Zweidimensionalität. [2] Im Bildraum wurden sie zu etwas anderem, bekamen Tiefe und erschienen unermesslich groß. Sie wurden ein Spiegelbild des Makrokosmos.

Seitdem untersuche ich alle möglichen Oberflächen meiner Umgebung. Neben erodierten Straßenbelägen und abgenutzten Fahrbahnmarkierungen interessieren mich auch frisch verlegte Gehwegplatten, verzinkte Bleche, verschrammte Müllcontainer,
leere Kaffeebecher oder alte Salatschüsseln. [3] Auf vielen dieser unscheinbaren Flächen regt sich verborgenes Leben, in jedem Material steckt ein ganzes Universum unterschiedlicher Strukturen.

Manche dieser gefundenen Bilder könnten auch
aus den Laboren der Wissenschaft stammen, andere aus der Welt der Träume oder des Unbewussten. [4] Ich verstärke und bearbeite sie, lasse ihre dokumentarische Substanz aber im Kern unverändert. Der ursprüngliche Gegenstand jedoch wird meist vollständig transformiert und geht in der Komposition des Bildes auf. Die Materie wird transparent. [5]

Eine der Grundfunktionen unseres Gehirns ist das Bemühen, die Erscheinungen des Kosmos zu erkennen und einzuordnen – und ihnen einen Sinn zu geben. Indem ich das Zufällige nach Bedeutung befrage, lote ich die Grenzen des Erkennens, des Wissens und der Fantasie aus. Meine Kosmografien sind Beschreibung und Ergebnis dieser Zwiesprache zwischen dem inneren und dem äußeren Kosmos.


Zu den Kosmografien ist ein Katalog erschienen.



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Anmerkungen

1 Zitate nach Duden, Etymologie, Mannheim 1963

2 Sandro Botticelli spottete über die Landschaftsmalerei, dass »wenn man einen Schwamm, der mit verschiedenen Farben vollgetränkt sei, gegen eine Wand werfe, man einen Fleck verursacht, aus dem man eine wunderschöne Landschaft ersehen könne«. Leonardo da Vinci antwortete seinem Künstlerkollegen im Traktat über die Malerei, »dass derjenige, der die Anlage dazu in sich trägt, aus diesem Klecks zu lesen, darin einige menschliche Köpfe entdecken kann, verschiedene Tiere, eine Schlacht, einige Felsen, das Meer, Wolken, Wälder, und tausend andere Dinge – es ist wie Glockenläuten, aus dem man das heraushört, was man als Vorstellung in sich trägt« (nach Ernst, 1986).

Das Vermögen, Gesichter und Figuren in Felsen, Bäumen, Wolken und feuchten Flecken an der Wand sehen zu können, beschreibt der Schriftsteller John Michell als eine grundlegende menschliche Fähigkeit. Und auch die Bildung menschlicher Formen und Gesichter hält er für eine bereits in der Natur angelegte Tendenz. »Das Auge ist naturgemäß zum Anthropomorphisieren geneigt, und ebenso ist es die Natur. […] Es bleibt ein mysteriöses Phänomen, dass wir, wohin auch immer wir in dieser Welt schauen, die zu bewohnen wir geschaffen sind, Spiegelbilder unserer selbst sehen« (Übers. d. Autors).

3 Dabei weiß ich mich dem Künstler Max Ernst verbunden, der in seiner »Maximiliana« für die Aquatinta-Radierungen zur Entdeckung des 65. Planeten auch Küchenutensilien wie durchbrochene Tortenuntersätze und Flaschenverschlüsse verwendet hat.

4 »Es zeigten sich mitunter fast unzählbar viele Sterne, Milchstraßen und größere Sonnen; Bogen, die an ihrer hohlen Seite dunkel, an ihrer erhobenen aber mit Strahlen versehen waren; ganz fein gebildete Ästchen, denen ähnlich, welche gefrorener Dampf an Fensterscheiben erzeugt; ferner Wolken, sehenswert in ihrer mannig-fachen Gestalt und den verschiedenen Graden des Schattens; und schließlich andere Figuren von besonderer Form [...]«, schrieb der Mathematiker, Physiker und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg 1778 über die nach ihm benannten Lichtenberg-Figuren, die bei seinen elektrischen Experimenten entstanden. Die kosmischen Metaphern lagen auch ihm auf der Zunge.

Die Lightning Fields des zeitgenössischen Fotografen Hiroshi Sugimoto entstehen allein durch elektrische Entladungen. Mit seinen Fotografien vollzieht er frühe wissenschaftliche Experimente zur Elektrizität nach.

Der Schriftsteller und Künstler August Strindberg versuchte 1894, Fotografien der Gestirne ohne Kamera und Linse zu erzeugen, indem er lichtempfindliche Platten direkt dem Licht des Mondes und des nächtlichen Sternenhimmels aussetzte. Die so entstandenen Celestografien brachten zwar keine scharfen Abbildungen hervor, zeigten aber Punkte und Strukturen in eigentümlichen Farben, die durchaus wie Himmelskörper anmuteten.

So kommen Aufklärer, Künstler und Mystiker zu ähnlichen Bildern. Sie erinnern an das hermetische Analogieprinzip »wie oben, so unten«, das sich heute in den wissenschaftlichen Erkenntnissen über selbstähnliche Strukturen in der Natur spiegelt.

5 Manche Kosmografien ähneln »Gedankenformen«, wie sie die Theosophen Charles W. Leadbeater und Annie Besant nach hellsichtigen Erfahrungen gezeichnet haben. Andere erinnern an die Schilderungen veränderter Bewusstseinszustände des Philosophen Jochen Kirchhoff. Er schreibt: »Alle Mauern und Wände sind in der Tiefe durchsichtig. Der physische Raum ist transparent für den anderen/höheren/metaphysischen Raum.« Ähnlich sah es auch Max Ernst: »Indem es sich seiner Undurchsichtigkeit entledigt, verschmilzt das Universum im Menschen. Sich seiner Blindheit zu entledigen, wird so des Menschen Berufung.«

Die Idee der Entfaltung aller Bereiche des Lebens gemäß eines bestehenden Ordnungsprinzips hat in der chinesischen Philosophie des 11. Jahrhunderts zum Konzept des »Li« geführt. Der Architekt David Wade verwendet diesen Begriff für sich wiederholende oder ähnelnde Strukturen und Formen in der Natur. »Li spiegelt die Ordnung und Struktur der Natur […] aber nicht die starre Struktur eines Mosaiks: Es ist die energiegeladene Struktur, die sich in allen lebendigen Dingen verkörpert – und in menschlichen Beziehungen sowie den höchsten menschlichen Werten« (Joseph Needham nach Wade 2003, Übers. d. Autors).
Literatur

Ernst, Max: Bücher und Grafiken. Ausstellungskatalog des Instituts für Auslandsbeziehungen. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986

—: Maximiliana ou L’Exercice illégal de l’Astronomie. Écritures et eaux-fortes de Max Ernst pour commenter et illustrer les données de Ernst Guillaume Tempel, mises en lumière par Iliazd. Paris 1964

Kirchhoff, Jochen: Die Anderswelt. Eine Annäherung an die Wirklichkeit. Raum, Zeit und Selbst in veränderten Bewusstseinszuständen. Ein Beitrag zur inneren Kosmologie. Klein Jasedow 2002

Leadbeater, Charles Webster und Besant, Annie: Gedankenformen. Freiburg im Breisgau 1996

Lichtenberg, Georg Christoph: Observationes. Die lateinischen Schriften. Übersetzt und herausgegeben von Dag Nikolaus Hasse. Göttingen 1997

Michell, John: Simulacra. Faces and Figures in Nature. London 1979

Strindberg, August: Verwirrte Sinneseindrücke. Schriften zu Malerei, Photographie und Naturwissenschaften. Amsterdam, Dresden 1998

Sugimoto, Hiroshi: Hiroshi Sugimoto. Ostfildern 2010

Wade, David: Li. Dynamic Form in Nature. New York 2003



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